Stuhl-Verwandlungen-1Ich bin ein Stuhl – ein ziemlich alter Stuhl.
Die meisten meiner Kollegen und Freunde sind längst kaputt oder wurden jetzt einfach ausgetauscht. Dabei weiß ich noch genau, wie es war, als ich jung war und vor fast 33 Jahren hier an die Fachschule kam. Ich war aufgeregt und noch völlig unerfahren in meiner Rolle als Sitzgelegenheit für Schülerinnen. Schüler gab es damals nur ganz wenige. Der Raum, in den ich mit vielen anderen gestellt wurde, roch noch ganz neu, aber er gefiel mir gleich: hier war es hell und die Menschen wirkten freundlich.

In den vielen Jahren habe ich einiges erlebt und mitgemacht: Menschen mit ganz unterschiedli-chem Gewicht haben sich auf mir niedergelassen; oft war ich auch nur Ablage für Taschen oder Füße; manche SchülerInnen kippelten mit mir – das auszuhalten fiel mir im Lauf der Jahre immer schwerer.

Manchmal wurde ich in andere Räume geschleppt und fremde Menschen nahmen auf mir Platz. Eines Tages – ich konnte es kaum fassen –, da klebte wirklich jemand einen Kaugummi an mich. Wie eklig!
Mit der Zeit habe ich auch ganz schön viele unterschiedliche Gespräche mitbekommen. Manches hat sich Jahr für Jahr wiederholt, das wurde dann ziemlich langweilig und ich habe mich auf die Ferien gefreut: die Ruhe, die Leichtigkeit, das Nichtstun!

Aber spannender war es schon, wenn alle SchülerInnen und LehrerInnen da waren und etwas los war. Nebenbei habe ich auch einiges gelernt und manche Geheimnisse gehört … unglaublich, was an einem Schultag alles gesprochen wird! Ich bin ein alter Stuhl und gespannt, was nun mit mir gemacht wird.

18 junge Frauen aus dem Oberkurs 1 haben 18 alte Stühle mutig und kreativ bearbeitet: Es wurde gesägt und geschliffen, gefräst und geraspelt, gebohrt und gehämmert, bemalt und beklebt, besprüht und geleimt.

Ich bin ein Stuhl – ein ziemlich einzigartiger Stuhl.
Stuhl-Verwandlungen-4Wenn ich es richtig verstanden habe, werde ich bald bei der netten Frau einziehen, die mich in den letzten Wochen so bearbeitet hat. Zugegeben: das war nicht immer lustig! Die Frau behauptet aber, nun wäre ich was ganz Besonderes, ihr Lieblingsstuhl, ihr Traumstuhl!

Ich habe mich in dieser Zeit ziemlich verändert. Der alte Lack ist ab, neue Farbe kam drauf, manche meiner Freunde bekamen sogar Glitzer und einige beneide ich um ihre gemütlichen Sitz-kissen. Ich bin ziemlich gespannt darauf (und auch ein bisschen ängstlich), meine alte Heimat, die Fachschule, zu verlassen und ein neues Le-ben in einem neuen Zuhause zu beginnen.

Ich bin ein verwandelter Stuhl.

Annemarie Steiner,
Dozentin für ästhetische Bildung
Evang. Fachschule für Sozialpädagogik Stuttgart

 


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